Am Abgrund
1. Szene – Auftritt: Feh
Franz brannte darauf, Schorsch zu treffen. Er stand vor ihrem Stammlokal, es hatte aber noch geschlossen. Fünf Uhr nachmittags, er schaute auf die Armbanduhr, da könnte er glatt noch neue Kletterschuhe im Sportladen um die Ecke in der Bäckerstraße besorgen.
Dort trödelte er herum, probierte dieses und jenes Paar, entschied sich schließlich für eines in Violett und Gelb. Die Schuhe legten sich wie eine zweite Haut um seine Füße, entsprechend teuer waren sie. Egal, dachte Franz. Er fühlte sich gerade irgendwie euphorisch.
Um achtzehn Uhr sprintete Franz in die Nebengasse. Er öffnete die Tür zur ›Löwengrube‹ so schwungvoll, dass die Klinke gegen den Garderobenständer krachte. Im letzten Moment erwischte er noch die Holzstange, ehe das Teil zu Boden gehen konnte. Gleich würde Marvin schimpfend aus der Küche kommen. Doch nichts geschah.
Franz staunte. Schwarze Plastikmesser baumelten an blutroten Schleifen von der Decke. Sogar das Klavier war irgendwie blutrot dekoriert. Dann fiel ihm ein, dass heute auf der zusammengezimmerten Bühne ein Stück gespielt wurde. Da gab es kaum eine Chance, in Ruhe mit Schorsch zu reden; ob der überhaupt kam?
Franz nahm ein Programm vom Tisch. ›Jack the Ripper‹. Franz grinste, das passte zu Marvin. Kaum gedacht, hörte er ihn in der Küche keifen. »Was hast du wieder für einen Dreck zusammengekocht!«
Marvin schien seinem Hyppolith gleich an die Gurgel zu gehen. Da hielt er sich lieber raus, wenn zwei Liebende stritten.
Er schlug das Programmheft auf. Die Miss Chloé wurde von einer Feh Hartenstein gespielt. Hartenstein hieß die Konkurrenz, deretwegen ihn sein Chef gefeuert hatte, was sich aber nach dem ersten Schock als die Chance erwiesen hatte, endlich seinen Traum wahr werden zu lassen. Manchmal brauchte es wohl einen Tritt in den Allerwertesten, um zu kapieren; Franz lachte in sich hinein.
Besagtes Bauunternehmen hatte ein dichteres Netzwerk als die Firma, die ihn gerade geschasst hatte. Außerdem Preise abgeräumt. Franz schalt sich. Es war doch jetzt vollkommen wurscht, sein Leben als Bauzeichner war beendet, ein neues hatte bereits begonnen, und es war höchste Zeit, seinen besten Freund Schorsch in die Pläne einzuweihen.
Die Plastikmesser am Bühnenvorhang klirrten leise, Franz blickte auf, der Vorhang teilte sich und eine kleine, schlanke Person trat hervor; sie sah sich um. Von ihrem Gesicht konnte Franz unter der Schminke kaum etwas erkennen – aber der Körper in dem kurzen Kleid war echt. Das Mädchen sah ihn aus grünblauen Augen an, wischte das schwarze Kunsthaar beiseite.
»Sie sind zu früh!« Sie sprach leise.
»Sind Sie Miss Chloé?« Er lachte.
Das Mädchen schwieg.
»Bestimmt, so wie Ihre Augen funkeln.« Was redete er da?
Sie durchwühlte ihre Perücke mit den rot lackierten Fingern. »Ja. Ich bin das leichte Mädchen, das den Bösewicht killt.«
»Und Ihr Vater ist nicht zufällig der bekannteste Baumeister von Wien?«
Miss Chloé schaute, als hätte sie einen Wurm verschluckt, und verschwand hinterm Vorhang. Franz nahm seinen Einkaufssack mit den Schuhen und betrat durch die Schwingtür neben dem Ausschank die Küche.
»Servus«, sagte er.
Hyppolith lehnte am Gasherd. Mit verschränkten Armen glich er dem jungen Belmondo, und er schaute Franz genauso verkniffen an. Hinter seinem Rücken brodelte es in einem großen Topf, vor ihm stand Marvin, dicklich und einen Kopf kleiner als sein Lebensgefährte; er umklammerte Hyppoliths Unterarme.
»Was hast du wieder für einen Dreck zusammengekocht!«, wiederholte er erschüttert. Sein runder Körper zitterte vor Ärger.
»Hey, so schlimm kanns doch nicht sein?« Franz fürchtete, dass seinen Freund irgendwann der Schlag treffen würde. Cholerisch war er schon mit elf gewesen, jetzt, um einiges älter geworden, schwoll Marvins Gesicht allmählich zu einem Ballon an.
»Der bildet sich ein, für heute Abend einen englischen Fraß kochen zu müssen, ich könnte kotzen.«
Franz lachte. »Der arme Hyppo hats doch nur nett gemeint.« Er schlenderte auf den Herd zu und lüftete den Deckel des Topfes. Was ihm da entgegenduftete, roch wirklich nicht besonders.
»Du Banause, brauchst nicht so gucken, das ist ein Stew«, pfiff Hyppolith ihn an, riss sich die Schürze vom Leib und stürmte davon.
Marvin öffnete den Kühlschrank, studierte den Inhalt. »Es gibt Cucumber-Sandwiches zu ›Jack the Ripper‹. Basta.«
Franz schnappte sich eine Cocktailtomate. »Ein gutes Stück?«
»Geht so. Aber die Kleine, die den Jack schließlich killt, die ist richtig süß.«
»Das habe ich schon bemerkt.« Franz lachte.
»Was machst du eigentlich schon hier?«, fragte Marvin.
»Ich war in der Gegend. Hab mir Kletterpatschen gekauft, Superangebot. Weißt eh, gegenüber vom Klettergarten, wo Schorsch und ich trainieren.«
»Apropos Schorsch, er hat angerufen, dass er knapp kommen wird heut, weil die irgendeine Einschulung am Kommissariat haben, wo er dozieren muss, der Herr Hauptkommissar.«
Eine Stunde später füllte sich das Lokal, bald waren alle Tische besetzt und Marvin musste allein bedienen. Vermutlich saß Hyppolith daheim und schmollte. Franz übernahm die Theke. Marvins rotes Gesicht glänzte. »Wer zum Teufel holt die Gurkenbrötchen aus der Küche?«
»Ich.« Kriminalkommissar Georg Kirchner hatte im Trubel unbemerkt die ›Löwengrube‹ betreten, jetzt zupfte er sich den fahlblonden Zopf zurecht. Er war ein wilder Hund, der Schorsch, für einen, der bei der Polizei arbeitete, würde man ihn nie halten. Der lange Zopf, das bunte Hemd, als wäre er gerade aus Hawaii gekommen, und die Sonnenbrille mitten in der Nacht, die wohl seinen Blick nach feschen Miezen verbergen sollte. Er, Franz und Marvin, der damals mit seinen Eltern aus Irland eingewandert war, hatten im Gymnasium ihre Freundschaft durch Blutsbruderschaft besiegelt.
»Na, du schaust ja wieder aus!« Franz lachte. »Nach der Vorstellung muss ich dir was erzählen. Gut, dass du da bist.«
»Na hörst, ein Mordstück, das lass ich mir net entgehen.« Schorsch bleckte die strahlendweißen, leicht vorstehenden Zähne und bewegte sich im Wildkatzengang zur Küche, um mit einem großen Tablett voller Gurkenbrötchen wiederzukehren.
Schließlich waren alle Gäste versorgt, Marvin dimmte das Licht im Zuschauerraum und schaltete die Spots für die Bühne ein, worauf ein irres Lachen ertönte, das durch Mark und Bein ging. Der Vorhang rutschte zur Seite, das Spektakel begann mit einem Erzähler im Cut, der vom erschröcklichen Tod des Hurenmörders Jack the Ripper berichtete, herbeigeführt von Miss Chloé, die dafür am Galgen baumeln würde.
»Na servas«, sagte Schorsch und zapfte sich ein Bier.
»Wieder einmal ein Blödsinn«, gab Franz zurück.
Marvin, der sich nun zu ihnen gesellt hatte, meinte: »Aber lustig.«
Der erste Akt, in dem ein Jack the Ripper, der, da waren sich die drei Freunde einig, als Quasimodo durchgehen könnte, wie er buckelnd über die Bühne hinkte und leichte Mädchen erstach, die sich durch das dunkle London bewegten, ging unter dem Gelächter des Publikums zu Ende. Der Vorhang ruckelte zu. Applaus.
Wie aus dem Nichts stand Hyppolith plötzlich mit gütiger Miene vor ihnen. Erst umarmte er Marvin, dann Franz, sagte würdevoll in seiner französischen Sprachfärbung: »Isch kann verseihen«, und entschwand in sein Reich, die Küche.
»So ein Vogel. Aber klar, Liebe muss alles aushalten können, sogar Stew.« Schorsch feixte.
Den zweiten Akt eröffnete wieder der Erzähler. Er sprach von der grausamen Rache, die Jack baldigst durch Miss Chloé widerfahren werde.
Franz besuchte Hyppolith – er hoffte, nach der Vorstellung endlich mit Schorsch reden zu können – und traf ihn beim Entsorgen des Stews an. Die Schwingtür flappte auf.
»Hey, Franz, komm schnell, ein Wahnsinnsfeger in Action«, zischte Schorsch aufgeregt und war wieder weg. Obwohl er – wie auch Franz und Marvin – dieses Jahr sechsunddreißig wurde, benahm er sich immer noch reichlich kindisch, wenn es um, so redeten sie, ›fesche Hasen‹ ging. Als hätte Hyppolith Franz’ Gedanken gelesen, verdrehte er die Augen. »Vite, vite, sonst versäumst du die Königin der Hersen!«
Feh Hartenstein, deren Kleid an der Schulter zerrissen war und einen schlanken, blassen Arm preisgab, tobte über die Bühne. In der Hand ein Messer, sang sie: »Jack, oh Jack, bald bist du weg. Vermoderst dann im kühlen Grabe, nach dir kräht nicht einmal ein Rabe.« Dabei blitzten ihre hellen Augen aus der Kajalumrahmung und der grellrot bemalte Mund spie Hasstiraden.
Franz hatte noch nie ein derart fein geschnittenes Gesicht gesehen, das schön blieb, auch wenn das Mädchen eine Fratze zog. Nun trat Ripper-Quasimodo auf, schlich an einer Hauswand entlang, wahrscheinlich auf der Suche nach einem Opfer. Chloé sprang auf ihn zu, sie war viel kleiner als ihr Kollege, baute sich vor ihm auf und rammte ihm das Plastikmesser wieder und wieder zwischen die Rippen. Als er zu Boden fiel und einen Todeskampf mimte, stürzte der Racheengel von der Bühne, gellend lachend.
»Na, hab ichs nicht gesagt? Wahnsinnsmäderl, gell?«, schwärmte Schorsch.
»Sieht nett aus, stimmt.«
»Die oder keine, verstehst?«
»Übrigens, ich hab keinen Job mehr.«
Marvin schaltete die Bühnenspots aus. »Hat die Krise dich auch erwischt?«
»Ohne Scheiß?«, fragte Schorsch.
(...)