Heleneland
Der Messerwerfer - aus Elsa Rieger, Heleneland
Helene Band 1
Das Revuetheater liegt in der Nähe der Westminster Abbey in der Circus Road, rot bespannte Wände, plüschiges Ambiente. Unsere Plätze befinden sich in der Mitte der ersten Reihe.
„Das nenn ich Protektion, meine Süße!“ Gwen freut sich, aber mir ist das peinlich, ich wäre lieber diskret irgendwo hinten im Publikum gesessen.
Ein klassisches Programm läuft ab. Trapezkünstler in Lamé-Overalls aus Südamerika, ein Zauberer im Frack mit Kaninchen im Zylinder und einer Dame, die er zersägt. Eine Nummer, in denen Pudel
in Apricot durch flammende Reifen springen, angeführt von einer üppigen Frau, deren Dauerwellenlöckchen wie das Fell der Hunde gefärbt sind. Zwischen den Darbietungen die typischen
Spaßnummern von zwei Clowns. Einer von ihnen agiert in Frauenkleidern, und jedes Mal, wenn der andere in seinen übergroßen Schuhen hinfällt, dreht er dem Publikum den Rücken zu, streckt den
Hintern vor und rafft den Rock. Auf seiner Unterhose steht: „Total Asshole“. Die Zuschauer pfeifen und grölen.
Meine Spannung steigt, je weiter sich die Show der Halbzeit nähert, denn danach tritt der Messerwerfer auf.
In der Pause muss Gwen eine Zigarette haben. Auf der Straße sagt sie: „Jetzt bin ich aber gespannt auf deinen ...“
„Robert. Nicht mein.“ Doch insgeheim wünsche ich es mir. Mein Robert.
Als wir in den Saal zurückkommen, steht schon ein kleiner Tisch nahe der Rampe. Darauf liegen in zwei akkurat ausgerichteten Reihen Wurfmesser mit roten Griffen. Robert betritt von links die
Bühne. Sein Gesicht verborgen hinter einem Blumenmeer roter Gladiolen in den Armen. Lächelnd wirft er eine um die andere ins Publikum. Eine landet vor meinen Füßen. Ich hebe sie auf, und als
ich wieder zur Bühne blicke, steht eine Assistentin im hautengen, silbernen Overall neben Robert. Er führt sie zur schwarzen Zielscheibe, die an der hinteren Wand montiert ist, schnallt ihr
Lederriemen um Hand- und Fußknöchel, Taille und Stirn. Kurz betrachtet er sein Werk, wendet sich dann dem Tischchen zu.
Mein Herz steht still, als Robert das erste Messer in die Hand nimmt und sich auf die Finger haucht. Es ist ganz ruhig im Saal, vielleicht halten alle den Atem an wie ich.
Roberts Muskeln spannen das Seidenjackett am Rücken, an den Schultern. Plötzlich steckt das Messer mit zitterndem Griff neben dem linken Ohr der Frau. In rascher Folge fliegen die anderen,
während die Scheibe zu rotieren beginnt. Schneller und schneller, Robert jagt ein Messer nach dem anderen über die Bühne.
Ich schließe die Augen, in meinem Kopf dreht sich alles, ich sehe, wie der Schenkel der Assistentin durchstochen wird, eine Schneide steckt in ihrem Herzen, eine im Augapfel. Blut spritzt auf
die Bühne, da die Scheibe nicht aufhört, zu rotieren.
Dann tost Applaus in meinen Ohren und ich öffne die Augen. Die Scheibe steht ruhig, Robert hat alle Messer geworfen. Er befreit seine Assistentin, geleitet sie zur Rampe. Sie knickst. Ihr
Overall ist natürlich unbefleckt; meine absurden Fantasien! Robert breitet die Arme aus und verbeugt sich. Wieder brandet Applaus auf.
„Yes!“, schreit Robert triumphierend, „Yes!“
„Ich muss zu ihm“, sage ich entschlossen, „verstehst du das, Gwen?“
„Natürlich, geh nur, wir sehen uns zuhause. Man lernt ja nicht jeden Tag einen Artisten kennen.“
Vor dem Flur, der zu den Künstlergarderoben führt, verabschiedet sie sich mit einem anzüglichen Grinsen. Ich gehe von Tür zu Tür, schließlich finde ich jene mit Roberts Namen. Sie steht
offen, ich hebe die Hand, um zu klopfen, doch im selben Moment spaziert die Assistentin, in Jeans und Rollkragenpulli, an mir vorbei. Sie schaut mich spöttisch an. In einem schwarzen
Frotteebademantel lehnt Robert am Schminktisch und cremt sich die Hände ein. Auf dem Stuhl sitzt einer der Clowns, noch in seinem Kostüm.
Robert wirkt überrascht, als er mich in der Tür stehen sieht. Doch dann lächelt er glücklich, „Komm rein!“ Er deutet auf seinen Besuch. „Das ist Jack total asshole.“
Der Clown nickt mir zu, grinst. „In Wahrheit ist Robert das Arschloch, Sie werden schon sehen.“
„Hau schon ab“, sagt Robert und Jack verlässt die Garderobe.
„Schön, dass du hier bist, ich habe mir eben den Angstschweiß abgeduscht“, er zeigt auf seine feuchten Haare. „Was trinken?“ Geschmeidig stößt er sich vom Tisch ab und füllt zwei Gläser mit
Grenadine und Sekt, reicht mir eines. Ich nippe daran. Robert trinkt seines in einem Zug leer, drückt mich an sich. Sein Kuss drängend, er saugt an meiner Oberlippe, ganz
selbstverständlich.
Was denn sonst?, denke ich und sage auch ganz selbstverständlich: „Ich will dich.“
„Ich weiß.“ Er schlüpft aus dem Bademantel, steht im roten Minislip vor mir und ich senke den Blick. Dann kleidet er sich an. „Komm, wir gehen zu mir.“
Das Hotel ist schäbig.
„Yes“, flüstert Robert.
Als er in mir explodiert, brüllt er es und rollt sich neben mich.
„Es tut mir leid“, sage ich, „ich bin nicht besonders gut in dieser Disziplin.“
Er lacht.
„Ich war zu geil auf dich, zu schnell.“ Er streichelt meine Wangen. Sein Körper ist drahtig und so blass wie die Hände.
Ich berühre seine Finger. „Sie sehen so zerbrechlich aus.“
„Sie sind kräftig.“ Robert stützt sich auf den Ellenbogen, mustert mich. Ich schaue zur hochglanzlackierten Holzschatulle, in der er seine Messer aufbewahrt. Er folgt meinem Blick. „Ich lasse
sie niemals in einem der Theater, lieber schleppe ich mich damit ab.“
Ich stehe auf und stelle mich an den windschiefen Schrank.
„Wirf! Beweise es.“
„Was?“ Erstaunt.
„Dass ich mich sicher bei dir fühlen kann, dass du mich liebst.“
„Nein!“ Er kommt zu mir, presst seinen Körper an mich.
„Willst du morgen mein Model auf der Bühne sein? Wagst du es?“
„Yes“, sage ich.
Wir lieben uns die ganze Nacht, bei jedem Mal öffnen wir einander mehr. Robert führt mich geduldig in die Kunst der Liebe ein, und ich strecke meinen nackten Körper wohlig unter seinen
Zärtlichkeiten. Ich denke an Django, seine grobe Umgangsweise, kein Wunder, dass ich bisher kein großes Interesse an Sex entwickelt habe.
„Ich glaube, du bist meine Liebe.“ Ich werfe mich auf ihn und überschütte ihn mit Küssen.
„Liebe. Was für ein großes Wort“, lacht er.
Zwei Wochen sind es nun, die ich mit Robert in seiner Absteige verbringe. Gwen treffe ich nur ab und zu. Es entgeht mir nicht, dass sie deswegen schmollt.
„Schau“, sage ich und bestelle für sie eine zweite Portion Schokoladeneis in der besten Eisdiele Londons nach unserem Spaziergang durch Covent Garden, „ich lerne endlich wirklich die Liebe
kennen, sei mir doch nicht böse.“ Um sie zu beruhigen, habe ich ihr in der Mall ein schönes XXL-Kleidchen gekauft, das sie gleich anbehalten hat. Immerhin hat sie danach aufgehört, mit mir zu
schimpfen.
Liebevoll und gar nicht laut sagt sie: „Ich mach mir einfach Sorgen, du bist so naiv, weißt du? Jetzt gehst du sogar auf die Bühne mit dem Typen, wo soll das hinführen?“
„Hab dich nicht so, komm mit, sieh es dir an“, lache ich. „Ich werde doch nicht zum Schafott geführt. Robert ist ein Profi. Und nun ist er mein.“
Entsetzt schüttelt Gwen den Kopf, sie plustert sich in ihrer Üppigkeit auf, indem sie die Rüschen des neuen violetten Samtkleides um sich drapiert. Theatralisch hebt sie den Arm und legt ihn
über die Stirn.
Nachher in Roberts Garderobe – Gwen ist tatsächlich nicht mitgekommen – kippe ich zwei Gläser Kir Royal.
„Der Köper muss absolut ruhig bleiben.“ Seine Finger spielen Klavier in der Luft.
Ich trinke ein weiteres Glas. „Jetzt bin ich ganz ruhig. Vielleicht sterbe ich heute. Ich will in einem Zustand der Erleuchtung ins Blau übergehen.“
„Du bist verrückt.“ Er steckt mir die Zunge zwischen die Lippen.
Es wird Zeit, ich schminke meine Augen, male den Mund dunkelrot an. Das Kostüm der Assistentin ist mir zwei Nummern zu groß. Robert verzieht das Gesicht.
„Ich weiß was“, sage ich, „hast du vielleicht ein Messer hier?“ Darüber muss ich augenblicklich lachen. Er auch. Ich schneide die Beine der schwarzen Seidenhosen in Fransen, meinen roten
Pulli in Streifen.
„Heute nagelst du zur Abwechslung einen Punk an die Scheibe!“
Sein Lächeln wirkt abwesend, wir laufen den Flur entlang zur linken Seite der Bühne, warten auf das Zeichen für den Auftritt. In einem Aufwallen von Angst greife ich nach Roberts Hand.
„Jetzt nicht“, flüstert er heiser, schüttelt mich ab und umarmt den dicken Blumenstrauß. In seinen dunklen Augen flackert die Anspannung. Er hat auch Angst, das beruhigt mich.
„Du musst Arbeit und Liebe auseinanderhalten.“ Bei seinen Worten öffnet sich der Vorhang.
Schon hat er sein umwerfendes Lachen aufgesetzt und wirft die Gladiolen ins Publikum. Dann winkt er mich zu sich. Stolz stöckle ich in meinen Stiefeletten auf die Bühne. Robert nimmt meine
Hand und verbeugt sich tief mit mir zusammen.
Kerzengerade gehe ich neben meinem Messerwerfer zur Drehscheibe. Während er mir die Gurte umlegt, zischt er zwischen den Zähnen: „Das ist Arbeit – ernst wie der Tod.“
Ich suche vergebens seinen Blick. Nun bin ich eine Schießbudenfigur. Er läuft zur Rampe, zu den Messern.
Meine Schenkel fangen zu zittern an, der Tremor ergreift den gesamten Körper bis hinauf zu den Haarwurzeln. Robert tariert das erste Messer aus, wirft. Ich kneife die Augen zusammen. Ein
Luftzug, ein Aufschlag neben dem linken Ohrläppchen. Die Schneide singt eine Zehntelsekunde. Ein Einschlag nach dem anderen. Schweiß sammelt sich zwischen meinen Brüsten, sickert zum
Bauchnabel abwärts. Dann eine kühle Hand an meinem Hals, erschrocken reiße ich die Augen auf.
„Ist gut. Alles gut“, sagt Robert und drückt den Hebel, der die Scheibe in Drehung versetzt.
Die Welt zerfällt in bunte Wirbel, Strudel, Schlieren.
Durch die Lichtkreisel kriechen Amphibien aus dem brodelnden Meer ans Land. Vulkane spucken Feuerfontänen, die Erde bebt unter den Schritten der Saurier. Ein Tyrannosaurus Rex beißt den Kopf
vom langen Hals eines Dinosauriers, als handle es sich um einen kandierten Apfel am Stiel. Mammuts wiegen sich vorbei, und dahinter brüllen die ersten Menschen, bewaffnet mit Stangen.
Die Drehgeschwindigkeit verlangsamt sich. Applaus rauscht in meinen Ohren. Ich wage einen Blick. Vor mir steht Robert.
„Yes! Und wieder die Liebe“, sagt er und hebt mich herunter.